Interview

Eine . für alle

„Leben ohne Einschränkungen:
Moderne, barrierefreie Räume, die
Unterstützung, Sicherheit und Gemeinschaft bieten.“

Interview

Jessica Köhler & Beate Merlot

Die Geschäftsführerinnen von Liberty Wohnen ohne Grenzen GmbH im Interview für die Initiative „Starke Frauen – Starker Mittelstand“.

„Eine Lösung für alle“

Die Zukunft des Wohnens liegt im hessischen Rödermark, wenige Kilometer südlich von Frankfurt. Dort liefert ein barrierefrei gebautes Mietshaus für 28 Parteien jeden Tag Antworten auf die wachsenden Herausforderung, wie sowohl ältere Menschen als auch Menschen mit mobilen Einschränkungen einen schönen, zufriedenen und selbstbestimmten Alltag leben können – und wie ganz nebenbei Gesundheits- und Pflegesystem entlastet werden. Hinter dem innovativen Konzept stehen Beate Merlot und Jessica Köhler mit ihrem Social Start-up Liberty – Wohnen ohne Grenzen. Im Gespräch erklären die Gründerinnen, warum ihr Ansatz des Assistierten Wohnens ein universeller Problemlöser ist, wie genau der Alltag in Rödermark aussieht und wie sie die Idee dieser neuen Asset-Klasse in die Zukunft tragen wollen.

JK   Es wäre eine Welt, in der sowohl alte Menschen als auch junge Menschen mit mobilen Einschränkungen ein würdevolles, selbstbestimmtes, freies und freudvolles Leben führen könnten, obwohl sie nicht mehr zu Hause wohnen wollen oder können.

BM   Es wäre eine Welt, in der wir eine Lücke geschlossen hätten zwischen den eigenen vier Wänden, aus denen man aus Alters- oder Krankheitsgründen ausziehen muss, und dem Pflegeheim, für das man noch viel zu gesund ist.

JK   Es wäre eine Welt, in der Mieterinnen und Mieter weder allein sein müssten noch gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Wenn sie wollen, können sie unsere Assistenz in Anspruch nehmen, Kontakt zu den Mitbewohnern aufbauen oder am ganz normalen gesellschaftlichen Leben teilnehmen.

BM   Es wäre eine Welt, die um eine Asset-Klasse reicher ist, die viele Fliegen mit einer Klappe schlägt.
BM   Ja, das stimmt. Wir haben hier tatsächlich eine Lösung gefunden, die alle Beteiligten zufriedenstellen könnte. Aber vor allen anderen Vorteilen, die sicher auch politischer und ökonomischer Art sind, steht nun mal das Individuum. Wir wollen mit unserer Wohnform zurück zum Menschen. Der Mieter ist unser größter Stakeholder. Natürlich machen wir nicht alles nur aus Idealismus, und natürlich müssen auch wir Geld verdienen, aber unser größter Lohn ist es, wenn die Mieter sich wohl fühlen und zufrieden sind und gerade auch dadurch länger gesund bleiben. Wir profitieren persönlich sehr von der Wärme und der Dankbarkeit, die wir zurückbekommen. Ein alter Mensch ist kein Zahler mit der Nummer sieben, und ein junger Mensch im Rollstuhl trägt nicht die Nummer acht. Man muss ihnen ein schönes Lebensumfeld bieten und sich aufrichtig um sie kümmern. Das gibt es in der Pflege kaum noch, was mich sehr traurig macht. Es ist so viel Geld im Umlauf, gerade in der Immobilienbranche und der Pflegebranche, aber leider interessiert es immer weniger Manager, ob die Gebäude am Ende wirklich zu den Bedürfnissen ihrer Bewohner passen. Das tun sie nämlich oft nicht und somit verlieren sie ihre Funktion als Schutzgeber. In besonderer Weise leidet die Pflege darunter, denn die Reduktion auf Bilanzierung und Ökonomie verträgt sich nicht mit dem engen Kontakt zwischen den Menschen, wie er in der Pflege gelebt werden sollte.

JK   Wenn wir vom Menschen sprechen, ist auch Identität ein ganz wichtiger Begriff. Die Mieterinnen und Mieter verlieren nämlich nicht ihre eigene Identität, sobald sie bei uns einziehen – was uns stark unterscheidet von einem Pflegeheim oder dem betreuten Wohnen. Wir wollen, dass die Menschen selbst entscheiden, wie sie ihre Wohnung einrichten, wie ihr Tagesablauf aussieht, welche Hilfestellungen sie wann brauchen und welcher Anbieter – ob Physiotherapeut, Logopädin oder Pflegekraft – ihnen gefällt. Sie sollen sich auch selbst dafür entscheiden können, mit wem sie zu welchem Zeitpunkt Mittagessen oder wen sie sich vielleicht dafür in ihre Wohnung einladen. Wir wollen Autonomie und Selbstbestimmtheit wieder populär machen, die zu pflegenden Personen in unsere Gesellschaft integrieren und sie gleichzeitig aus dem engen Korsett von Wohnmustern und deren Abläufen befreien, an die wir uns so gewöhnt haben. Klar, diese Kontrolle braucht jemand, wenn er sehr krank oder dement ist. Aber diejenigen, die noch nicht diese Phase erreicht haben, brauchen dringend andere Möglichkeiten. Freiheit, Geborgenheit, Gemeinschaft und Schönheit sind dabei unsere Leitbegriffe.
JK   Das bedeutet nicht, dass wir hier besonders tolle Kunst an den Wänden hätten, ein spektakulärer Garten gestaltet oder unser Haus von einem Stararchitekten gebaut worden wäre. Es ist ein breiter Schönheitsbegriff, der viel mit dem Wohlfühlen und Zufriedensein zu tun hat. Architektonisch achten wir jedoch auf helle Räume, auf hohe Decken, auf moderne Ausstattung im Bad und in der Küche, auf einen grünen Standort. Das Haus ist ein Neubau am Stadtrand mit 28 unterschiedlich großen Wohnungen. Die Flächen reichen von 75 bis 136 Quadratmetern. Alle sind barrierefrei und sogar für Rollstuhlfahrer geeignet. Alle haben einen Balkon mit Blick in die Natur.

BM   Hinzu kommt, dass wir keinerlei Pflegeheimcharakter haben. Die Menschen, die in einem neuen Lebensabschnitt mit mobilen Einschränkungen fertig werden müssen, ziehen einfach um, zu uns, in eine neue, nicht stigmatisierte Wohnung. Dadurch ist die Hemmschwelle auch für die Verwandten viel niedriger, ihre Lieben zu besuchen. Wer schon mal im Pflege- oder Altenheim war, weiß, dass man dort nicht unbedingt gern hingeht, weil es so auf die Seele drückt. Wir haben eine positive Aura. Ich denke da nur an die ganzen Rollstuhlfahrer in unserem Haus. Die könnten nicht in einer normalen Wohnung leben. Wenn es uns nicht gäbe, müssten sie wirklich ins Pflegeheim. Wir spüren eine solche Dankbarkeit, dass ihnen das erspart bleibt. Das sorgt für Fröhlichkeit, bei ihnen und bei uns.

JK   Besonders ist auch, dass niemand einen Pflegegrad braucht, um einziehen zu können. Das ist im Pflegeheim und im betreuten Wohnen anders. Erreicht man plötzlich im betreuten Wohnen eine zu hohe Pflegestufe, muss man dort wieder raus. Und einen Pflegeheimplatz gibt es oft nur noch, wenn die Pflegestufe hoch genug ist, weil das Heim dafür mehr Geld bekommt. Wir möchten, dass die Leute bis zum Ende hier bleiben, auch in schweren Fällen. Wir hatten zum Beispiel einen Mieter, der ALS-krank war und dem es noch recht gut ging, als er hier einzog. Aber der Zustand verschlechterte sich, und wir haben es trotzdem geschafft, ihn hier mit einem Pflegedienst, der technisch auch eine Beatmung leisten konnte, zu versorgen. Das hat sehr gut geklappt, und die Familie des Mannes war uns sehr dankbar, weil man die letzte Zeit mit ihm in einer sehr persönlichen und privaten Atmosphäre verbringen konnte und nicht in die Klinik musste.

BM Ich möchte noch das soziale Gefüge als Besonderheit erwähnen. Man kann bei uns auch sein Haustier mitbringen, das man woanders abgeben müsste. Oder nehmen wir folgende Situation an: Ein Paar lebt zusammen, einer von beiden erleidet einen Schlaganfall oder hat einen Unfall und soll in eine Wohngruppe oder ein Pflegeheim. Dorthin könnte ihn der andere nicht begleiten. Hierhin schon. Auch die Familie mit dem behinderten Kind ist gut aufgehoben. Genauso wie die rüstigen Rentner, die Vorsorge treffen und rechtzeitig altersgerecht wohnen wollen. Diese familiären Strukturen sind unheimlich wichtig. Ganz abgesehen von den finanziellen Vorteilen. Wenn der eine Partner im Heim ist und der andere Partner noch zu Hause lebt, entsteht ja eine Doppelbelastung. Hier können die beiden zusammenbleiben und zahlen nur eine Miete.

JK   Was wir allerdings nicht anbieten können, sind die nötigen Sicherheitsvorkehrungen für Demenz-Patienten, die den Tag-Nacht-Rhythmus oder ihre Orientierung verloren haben.

BM   Ja, ich halte es auch nicht für gut, Menschen, die körperlich fit sind, aber geistig verwirrt, mit Menschen zu kombinieren, die geistig fit sind, aber körperlich versehrt. Die geistig Gesunden kommen dadurch in eine Negativschleife, die wirklich schlimm sein kann. Bei uns müssen die Bewohner den Kontakt nicht scheuen. Klar, manche wollen eher ihre Ruhe haben, die meisten suchen jedoch gerade die Begegnung, schließen Freundschaften, spielen Karten, fahren gemeinsam in Kur. Und man hilft einander. Das passiert ganz automatisch, ohne dass wir etwas tun müssten. Allein die überschaubare Größe des Hauses bringt das mit sich. Bei nur 28 Einheiten kennt man seine Nachbarn noch. Wichtig in diesem sozialen Gefüge ist auch die persönliche Assistenz für die Mieter, die direkt am Eingang an einer sehr präsenten Stelle sitzt.
BM   Eigentlich ist das egal. Das Wichtigste ist, dass diese Person ein empathischer Mensch ist, der sieht, dass jemand einsam ist, der animieren kann, der verkuppeln kann, der Hilfestellung leisten kann. Es muss überhaupt keine Pflegekraft sein. Ich sage immer, dass diejenigen, die ihre Partner oder ihre Eltern zu Hause pflegen, ja auch keine Ausbildung als Pfleger haben. In Zukunft werden sich die Fälle der zu Pflegenden erhöhen, während sich die Zahl der Pflegeplätze reduziert, weil nicht genügend Personal da ist. Bei uns in Hessen wurden in den vergangenen zwei Jahren bereits 38 Pflegeheime geschlossen. In ganz Deutschland verschwanden allein 2022 laut Branchendienst Pflegemarkt 142 Heime und 431 Pflegedienststandorte von der Bildfläche. Wir müssen also auch etwas schaffen, was die Angehörigen und das gesamte Pflegesystem entlastet.

JK   Als wir den Job der Assistenz ausschreiben wollten, fragten wir uns, wie wir das eigentlich formulieren sollen. Am Ende hießen die Anforderungen: ein großes Herz, große Ohren, viel Geduld und keine Scheu, Menschen auch mal in den Arm zu nehmen. Neben der Empathie muss sie aber auch Organisationstalent mitbringen. Diese Person ist ständiger Ansprechpartner für die Mieter, deren Familien und für die externen Dienste. Sie schaut, wo etwas fehlt. Sie fragt, was gebraucht wird und was nicht. Wird eine Physiotherapeutin oder ein Logopäde benötigt, hilft sie, diese mit auszusuchen – wobei der Dienstleister den Vertrag immer mit dem Mieter schließt. Wir sind nur der Vermittler.

BM   Unsere grundsätzliche Idee ist, die Mieterinnen und Mieter länger gesund zu halten, wozu ja auch sehr die Psyche beiträgt. Diesen Aspekt des Wohlfühlens, des Geborgenseins unterstützt die Assistentin sehr intensiv bei uns. In Pflegeheimen hingegen arbeiten inzwischen viele Leasingkräfte, die die Bewohner gar nicht mehr richtig kennen.

BM   Das ist richtig. Die Mieten sind ein wenig teurer als die normalen Mieten. Wir orientieren uns am Mietspiegel, ungefähr 20 Prozent kommen dann hinzu, weil wir Extras wie die sogenannten Liberty-Standards anbieten. Dazu gehören die hohe Barrierefreiheit, die höhenverstellbaren Küchen und die beiden Arten der Assistenz – eine technische und eine persönliche. Klar, das kann sich nicht jeder leisten, aber doch sehr viele. Und man muss ja auch immer den Vergleich anstellen: Wie teuer ist eigentlich betreutes Wohnen? Wie teuer ist das Heim? Und was habe ich dort – vor allem an weichen, menschlichen Faktoren – nicht? So betrachtet sind wir dann deutlich günstiger. Zudem zahlt man beim betreuten Wohnen Dinge, die man vielleicht gar nicht in Anspruch nimmt wie den Friseur im Haus, die Bowlingbahn im Haus, das Restaurant im Haus. Dort wird alles eingepreist.

JK   Während wir uns hier sogar noch fragen: Muss der Gärtner wirklich so teuer sein? Finden wir vielleicht einen günstigeren Energieanbieter? Wir haben immer den Mieter und den Endpreis im Blick. Denn der Mieter muss ihn schließlich bezahlen und nicht der Staat oder eine Krankenkasse.

JK   Nicht nur deswegen. Im Moment haben besonders die großen Immobilienentwickler ein riesiges Problem, da sie ihre Eigentumswohnungen nicht mehr realisieren können. Die Baukosten sind so hoch, die Zinsen so angestiegen, dass ihnen die Käufer weggebrochen sind. In dieser Situation können wir eine Lösung anbieten.

JK   Nicht viel. Ob Neubau oder Umbau einer bestehenden Immobilie: Das Einzige wäre eine hohe Barrierefreiheit. Wir sind eigentlich ein ganz normales Mehrfamilienhaus, nur mit sehr hoher Barrierefreiheit bzw. Rollstuhlgerechtigkeit. Wobei das doch eigentlich heute schon Standard ist. Wer baut denn noch eine Duschwanne ein? Ob ich nun die Tür zur begehbaren Dusche etwas breiter anlege, spielt bei der Investitionsentscheidung keine große Rolle. Der großartige italienische Architekt und Designer Michele de Lucchi sagt dazu: „Die höchste Qualität eines Produktes ist das Maß der Freiheit, das es seinem Benutzer schenkt.“ Ein großes Maß an Freiheit möchten wir auch für unsere Mieter – egal wie mobil eingeschränkt sie sind.

BM   Im Austausch mit möglichen Investoren hören wir übrigens häufiger die Frage, was denn die Drittverwendung dieser Immobilie sei, also die Verwendung nach einem möglichen Verkauf. Auch hier weisen wir immer darauf hin, dass es doch ein ganz normales Wohnhaus ist. Weil ich kein Personal habe, habe ich keine Personalräume, keine Duschräume, keine Umkleide, keine Kantine. Pflegeheime hingegen sind Maßanfertigungen. Gehen die Pleite, kann man nicht mal eben Wohnungen daraus machen, sondern müsste erst einmal kernsanieren.

JK   Ja klar! Termin vereinbaren und kommen! Je mehr Mitstreiter wir haben, die nach unserem Konzept arbeiten, umso besser! Alle Teilnehmer der Branche sollten an einem Strang ziehen, dann bekommen wir den Karren der Pflege auch wieder auf die Straße.

BM   Es gibt spezielle Unternehmensberatungen für Seniorenimmobilien, die verstärkt auf die Politik setzen. Von dieser Seite hören wir oft, dass die Politik Vorschriften aufstellen muss, dass die Fachkraftquote runter muss, dass Künstliche Intelligenz eingesetzt werden muss. Wir setzen eher auf Selbsthilfe! Unser Konzept unterliegt keinerlei Kontrollen oder Richtlinien. Meiner Meinung nach sollten alle Betreiber mehr zusammen arbeiten als gegeneinander. Auch in Sachen Personal. Nicht selten jagen sich ja Betreiber gegenseitig die wenigen Fachkräfte ab oder reisen ins Ausland, um dort nach Personal zu suchen – und vergessen dabei, dass für die Fachkräfte in Deutschland inzwischen die Wohnungen fehlen. Trotzdem plant man in diesen alten Strukturen weiter. Ich ziehe da immer das plastische Bild einer Produktion heran, in der Autos gebaut werden, obwohl die Räder fehlen. Wir sollten das ganze Thema mal neu denken und dabei nur die Ressourcen mit einbeziehen, auf die wir wirklich zurückgreifen können. Was haben wir denn? Wir haben viele empathische Menschen, die keine Fachkräfte sind, die sich aber als Assistenten einbringen könnten in solche Konzepte. Das soll aber kein Ehrenamt sein, sondern muss honoriert und bezahlt werden.

BM   Ideal wäre einen großer Arbeitgeber. Zum Beispiel eine Versicherung. Solch ein Unternehmen würde gleich an verschiedenen Punkten profitieren. Es könnte diese Immobilie bauen und die Wohnungen vermieten; die Wohnungen kann er seinen Mitarbeitern bereitstellen, die in Rente gehen; es kann sie aber auch für die Eltern der Mitarbeiter bereitstellen, die betreut oder gepflegt werden müssen und dafür in der Nähe der Mitarbeiter sein müssen; das Unternehmen hätte dadurch weniger Ausfallzeiten seiner Mitarbeiter; die Unternehmenskita kennen wir ja bereits, jetzt benötigen wir Produkte für die zu pflegenden Angehörigen; diese Sozialleistung könnte die Firma in die Arbeitsverträge hineinschreiben und gleichzeitig als ESG-Engagement deklarieren.Ich könnte mir auch neue Versicherungsprodukte vorstellen, die Familien von zu pflegenden Angehörigen entlasten und dann in unsere Produkte refinanziert werden könnten.

BM   Das war eine Mischung aus beidem. Ich bin Betriebswirtin und habe viele Jahre Krankenhäuser und Pflegeheime mitentwickelt und mitgebaut. Dabei konnte ich sehen, dass die Konzepte und damit auch die Einrichtungen veraltet waren. Viele Leute, die in den Pflegeheimen lagen, gehörten da eigentlich gar nicht hin. Es war furchtbar. Ich habe schon vor 20 Jahren gemerkt, dass wir an Grenzen stoßen. Ich habe gemerkt, dass die Kommunen keine neuen Pflegeheime mehr wollen, weil sie sich damit die Sozialfälle an Land ziehen. Denn bauen sie sich ein neues Pflegeheim, kommen Menschen, die vorher nicht in ihrer Gemeinde waren, dort dann aber statistisch nach anderthalb Jahren zum Sozialfall werden – die Kosten trägt die Gemeinde. Ich habe gemerkt, dass die bestehenden gemeinnützigen Einrichtungen keine moderne Konkurrenz wollten. Die konnten sie abwehren, weil deren Vertreter in den Stadträten saßen. Ich habe gemerkt, dass es kaum Einrichtungen gab für junge Pflegebedürftige. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Mutter mit der Schüttellähmung, die isoliert im Heim saß, während ihre Kinder zu Hause waren. Überall hat es gehakt. Irgendwann habe ich gesagt: „Ich kann das alles nicht mehr machen. Das passt alles nicht mehr. Ich brauche eine Auszeit und danach etwas anderes.“ Davon erzählte ich auch meiner alten Freundin Jessica, mit der ich immer zusammen joggte ...

JK   Bei mir war es genau umgekehrt. Ich war Teil eines Familienunternehmens für intensivmedizinische Hals-Nasen-Ohren-Produkte. Meine Kinder wurden größer und größer und zeigten mir, dass sie mich eigentlich gar nicht mehr brauchten. Da kam die Idee gerade recht, etwas Neues mit Beate auf die Beine zu stellen. 2015 gründeten wir die Firma, ohne genau zu wissen, worauf es hinauslaufen würde. Wir wussten nur, wir wollten es besser machen! Wir hatten so viel Wissen, so viel Erfahrung, das alles wollten wir nicht einfach verfallen lassen. Seit unserem Entschluss sind die Probleme einer alternden Gesellschaft bekannt, und seitdem ist eigentlich alles noch viel schlimmer geworden. Aber keiner macht mal einen wirklich nachhaltigen Vorschlag, der am Grundproblem etwas ändert und nicht nur die Symptome behandelt. Wir waren daher auf Messen, in Reha-Zentren, in Kliniken und fragten auch Betroffene: „Wenn ihr euch eine Immobilie backen könntet, wie würde die aussehen?“ Dadurch ist mit der Zeit das Konzept gewachsen. Als wir fertig waren, waren wir so begeistert, dass wir uns entschieden, unsere Idee nun auch bauen zu müssen. Wir gingen zur Bank, stellten das Projekt mit großem Enthusiasmus vor und sahen erst einmal Fragezeichen. „Wir haben jetzt gar kein Kästchen, das wir für Ihr Geschäftsmodell ankreuzen könnten“, hieß es. Waren wir nun „Wohnen“ oder waren wir „Pflege“? „Machen Sie doch lieber ein klassisches Bauträgergeschäft“, schlug man uns vor, „das finanzieren wir.“ Aber das wollten wir natürlich nicht. Es ging uns nicht um willkürliches Geldverdienen, sondern um einen echten gesellschaftlichen Mehrwert.

BM   Wir mussten der Bank erklären, dass es für unsere Vision noch kein Schublädchen gibt, denn wir liegen genau zwischen „Wohnen“ und „Pflege“. Ich erinnere mich an den Spruch: „Alle machen Mikrowohnen für Studenten in der Innenstadt, und Sie wollen jetzt Makrowohnen für Senioren auf dem Land.“ Stimmt noch nicht einmal, denn wir sind ja keine reine Seniorenwohnanlage, sondern stehen allen Generation offen. Kurzum: Wir kamen nicht weiter, während uns klar war, dass es an so vielen Stellen brennt in Deutschland. Man kann nicht mehr länger warten, bis die Feuerwehr kommt.

JK   Wir haben Gott sei Dank einen Investor überzeugen können, der das Problem verstanden und in uns investiert hat. Wir wollten zuerst nur seine Expertise darüber, ob unsere Kalkulationen ausreichen für Investoren, ob die Rendite interessant ist. Dieser Investor fand die Idee aber so toll, dass er selbst das Startkapital gab und uns einen Termin mit seiner Bank machte. Plötzlich war der Knoten durchschlagen. Die Bank hat es nicht bereut, und auch der Investor hat seine Zinsen auf das Mezzalin-Kapital erhalten. Innerhalb eines Jahres haben wir das Haus hingestellt. Es ist super gelaufen. Die Liste der interessierten Bewohner wächst und wächst, und es tut uns von Herzen leid, wenn wir bei dringenden Fällen Absagen geben müssen.

JK   Auf jeden Fall. Häuser wie unseres werden überall gebraucht. Wir würden sie aber in jedem Fall nicht größer machen. Wir planen mit 2500 Quadratmetern vermietbarer Fläche. Bei 28 Wohnungen mit einem Rangierradius von 1,50 Meter für die Rollstühle sind wir da schon sehr großzügig. Man könnte höchstens 35 Wohnungen daraus machen, mehr nicht. Denn wir wollen auch gewährleisten, dass weiterhin jeder jeden kennt, dessen Interessen und dessen Marotten, dadurch entsteht das Wir-Gefühl.

BM   Wir müssen aber auch erkennen, dass wir nicht mehr in der Zeit des Wünsch-dir-was leben, wo man jedes Grundstück mal eben günstig kaufen und teuer bebauen kann. Wir müssen auch schauen, was bereits an Gebäuden vorhanden ist und diese an unser Konzept anpassen. Warum nicht im Frankfurter Bankenviertel eine leerstehende Etage in unserem Sinne umbauen oder einen alten Bauernhof auf dem Land? Ein guter Projektentwickler macht etwas aus allem, was er vorfindet. Jetzt ist nicht nur die Zeit der Mutigen, sondern auch die der Kreativen.

Erfolg durch gesellschaftliches Engagement

Wir freuen uns auf Anfragen von potenziellen Kooperationspartnern, die genau wie wir ihre Produkt- und Marktorientierung um die Gesellschaftsorientierung erweitern möchten, um damit auch wirtschaftlich erfolgreich zu sein, in dem Bewusstsein, dass in Zukunft Wirtschaftskraft aus kultureller, moralischer und ästhetischer Kraft entsteht.